Wissensbilder

ausführliches Konzept

Ausführliches Konzept
In früheren Zeiten hieß es „Künstler sind ihrer Zeit voraus, sie haben Visionen, entwickeln Utopien“ – wohl wahr: zum Beispiel entwarf Leonardo da Vinci Flug-Objekte und sein Künstlerkollege Jacobo de’Barbari die passende Weltaufsicht aus der Vogelperspektive dazu.

Leonardo - Flugmaschine de'Barbari---Weltaufsicht

Seither vergingen Jahrhunderte, in denen einiges passierte:
Kriege erschütterten das Weltgeschehen, die Aufklärung seit Descartes wandelte das Denken der Menschen. Seit dem 17.Jahrhundert ersetzte ein mechanistisches Weltbild die Vorstellung einer göttlichen Schöpfungsordnung. Der Kosmos wurde als Riesenmaschine dargestellt, deren Räderwerk ewigen Gesetzen folgt, die der Mensch mit seinem Verstand erfassen kann.
Die industrielle Revolution veränderte einschneidend das Leben der Menschen: Mitte des 18.Jahrhunderts beginnend in England mit Spinn-Maschinen, Dampf-Maschinen, weiter über den Eisenbahn-Bau bis hin zur rasanten technologischen Entwicklung nach dem 2.Weltkrieg.

In der Malerei können wir von der Gotik über Renaissance, Barock, Rokoko, Klassi-zismus, Romantik, Realismus, Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Abstraktion + Konstruktivismus, Dada, Surrealismus, Neue Sachlichkeit, Tachismus + Informel, Pop Art + Fluxus, Photo-Realismus, Minimal + Concept-Art, die Jungen Wilden etliche Entwicklungsschritte ablesen. Diese mündeten in der heutigen Postmoderne, die sich durch einen extremen Stil-Pluralismus auszeichnet, der in einer Anhäufung von Zitaten verschiedenster Kunstperioden kulminiert. Der schon von Thomas Mann vertretene Gedanke, dass in Literatur, Architektur und Bildender Kunst nichts Neues mehr zu schaffen sei, führte zu einem spielerischen Umgang mit vorhandenem Material. Ihr pluralistisches Selbstverständnis brachte der Postmoderne des Öfteren den Vorwurf der Beliebigkeit ein.

Ich vermute, dass die extrem schnelle Entwicklung von Technologien etliche Menschen irritiert. Aus dieser Irritation / Ohnmacht heraus verschließen sie sich den aktuellen Zuständen.
Die Dystopie von George Orwell in seinem Roman „1984“ wurde längst von der Realität überholt - die Gedanken von Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ weitest gehend bestätigt.
Ich selbst kann heute keine Visionen oder Utopien entwickeln – wie sollten diese aussehen?! Noch schneller, höher, weiter (das ist keine Utopie) oder etwa das Rad zurückdrehen in Richtung „back to the roots“ (unmöglich und auch nicht so wirklich wünschenswert) ?!

Seit 1989 arbeite ich an einer neuen Malerei, die die Jetzt-Zeit reflektiert. Wenn ich schon keine Utopien entwickeln kann, muss ich mich wenigstens mit dem beschäftigen, was uns prägend umgibt.

Wir werden regelrecht erschlagen von unzähligen glatt-gestylten, technischen Gegenständen, die meist durch ihr ästhetisches Design bestechen, ihre wahre Funktion jedoch nicht ohne weiteres preisgeben. Selbst Betriebsanleitungen sind nicht unbedingt für jeden durchschaubar! Diese Dinge nehmen wir also hin, benutzen sie, ohne das Innenleben, die „Funktion“ zu hinterfragen. Wer weiß denn, wie Kühlschrank, Handy, PC, Auto, Flugzeug wirklich funktionieren? Wer hinterfragt muss meist passen, eben schon allein aufgrund der Vielfalt und der permanenten Neuerungen. Nichtwissen erzeugt Ohnmacht oder sogar Ängste vor der stets präsenten Technik.

1989 stellte ich mir also die Frage: „Was ist das eigentlich, das so immensen Einfluss auf unser aller Leben hat?“
So kam ich dazu, mich intensiv mit der Technik im „äußeren Erscheinungsbild“ und viel wichtiger: mit dem „inneren Entstehungs-geschehen“ auseinanderzusetzen.

Konstruktionsanleitungen sind der Ursprung aller industriell gefertigten Gegenstände. Bei ihrer Anfertigung gibt es faszinierende Parallelen zur Kunst: Am Anfang steht die Idee, eine Aufgabenstellung. Einer groben Entwurfsskizze folgen dann genauere Technische Zeichnungen, die bis in das letzte Detail Funktion, Größe, Material-Stärke und -Beschaffenheit, Abstände zueinander und so weiter festlegen. Diese Angaben bilden dann die Grundlage für den Material-Verbrauch, den Preis und vor allen Dingen für den Zusammenbau der Gerätschaften.
Was zunächst als geistige Leistung entstand, findet man heute in Milliarden von Technischen Zeichnungen, die fixiert und jeder Zeit abrufbar sind. Aus den meisten wurden reale technische Produkte, mit denen wir tagtäglich umgehen. Es waren kreative Menschen, die das alles entwickelten.

1989 entdeckte ich in einem Ausschnitt der Konstruktionsanleitung einer Kunststoff-Schneideeinrichtung eines Ingenieur-Freundes die Formen des Konstruktivismus, Kreis + Quadrat + Dreieck … und wusste: das ist es!
Das sind die Grundlagen der Jetzt-Zeit!
Erst acht Jahre später fiel mir das 1931 erschienene Buch Konstruktion der Architektur und Maschinenformen von Jakow Tscherichow in die Hände. In dessen einleitenden Beitrag schrieb E.F. Gollerbach: „Nur das Schaffen von neuen Formen, die den Formen des Lebens selbst entsprechen, die seine konkreten Bedürfnisse befriedigen, kann die Kunst auf den richtigen Weg bringen. Anstelle aller Anpassungen von außen ist es möglich und notwendig, sich die neuen Werke von innen zu erschließen und sie sichtbar zu machen in Formen, die die Welt der modernen Technik abbilden können. Die Kunst wird zu einem gewissen Maße zur Ingenieurkunst.“ Eine nachträgliche Bestätigung für meine Arbeit, die sehr logisch erscheint: jede Zeit, jede Situation hat in der Kunst ihre eigenen Formen und Farben. Zu glauben, der Konstruktivismus könne sich weiter entwickeln und ewig existieren, ohne die jetzigen Realitäten zu berücksichtigen, ist schlicht vermessen.


Meine Malerei wanderte gestützt durch Experten-Meinungen und Presse-Äußerungen in die Schublade „Erneuerung des Konstruktivismus“. Damit kann ich ohne weiteres leben, denn Geometrie ist die Grundlage dieser Kunstrichtung, genauso wie sie die Grundlage der technischen Konstruktionen ist. Man kann in der Geometrie den Ursprung der Malerei suchen, wenn man an die prähistorischen Fels-Ritzungen und -Malereien denkt: Zick-Zack- und Wellen-Linien, Netze, Strahlensonnen, Sterne.

Felsmalerei

Hinzu kommt die Bedeutung von Symbolen.
Willy Rotzler schrieb 1977 in Konstruktive Konzepte:
„Zu allen Zeiten hat sich die Beschäftigung des Menschen mit den höheren Mächten, mit dem Göttlichen, dem rational also nicht Fassbaren, in einfachen Symbolzeichen niedergeschlagen. Symbole sind innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft die in ihrer geometrischen Charakteristik gut erkennbaren Verständigungszeichen für das Nicht-Sagbare, das Numinose.“
„Das Symbol wurde zum weltlichen Emblem, etwa in der Heraldik (Wappenkunde), immer mehr aber auch zum leicht verständlichen Instrument spontaner visueller Kommunikation. Fahnen und Flaggen, Eisenbahn- und Schiffssignale, moderne Straßenverkehrszeichen, die wissenschaftlichen und technischen Zeichensprachen, und schließlich die Signete von Firmen sind die profanierten Beispiele einer einst sakralen geometrischen Symbolik.“

Symbolik, Instrumental-Musik, Bildende Künste sind weitestgehend weltweit verständlich. Die Konstruktions-Anleitung als Grundlage meiner Bilder kann von jedem Ingenieur und Techniker des entsprechenden Fachgebietes gelesen werden. So ist die Basis meiner künstlerischen Arbeit global verständlich und zeitgemäß.

Außerdem lebt der moderne Mensch mehr und mehr in einer geometrischen Ordnung. Alle menschliche Schöpfung, ob mechanisch oder industriell, beruht auf geometrischen Intensionen. Dieser Situation muss auch ich Rechnung tragen.

Betrachtet man das „äußere Erscheinungsbild“ technischer Gegenstände, so fällt das generell glatt-gestyte Design auf, das makellos zu sein hat. Mit einer „Handschrift versehenen Oberfläche“ gibt es in der technischen Produktion nicht. Will ich diese Realität in meinen Bildern reflektieren, kann ich weder mit Ölfarbe noch mit Aquarell arbeiten – ich benutze also Folien, Skalpell, stabile Industriefarben, die meist flächig aufgetragen werden, sowie Airbrush.

Wichtig ist mir aber vor allen Dingen das „innere Entstehungsgeschehen“. Ist der geistige Prozess, die Auseinandersetzung mit ausgewählten Problematiken bis zu einem gewissen Punkt abgeschlossen, benutze ich unterschiedliche Arbeitsweisen, um bestimmte Themen nach außen zu tragen.

Für meine „Analyse-Arbeiten“ analysiere ich eine Konstruktionsanleitung auf ihre bildwürdigen Ausschnitte, die eine gewünschte Thematik wiederzugeben vermögen. (Künstler auf Motivsuche). Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss bei der Suche von angemessenen Bildformen, die die Jetzt-Zeit reflektieren, spielen selbstverständlich die „berühmten 1000 Bilder, die entsprechenden Künstler und deren Theorien, die man als Grundversorgung im Kopf hat“. Wenn ich also nicht gewollt Analogien zur Kunstgeschichte (z.B. Léger, Mondrian, Kandinsky) erarbeiten möchte, muss ich um diese Vergangenheit zwar wissen, mich dann aber auch wieder von ihr entfernen bzw. befreien können. Autonom zu arbeiten bedeutet für mich, etwas Zeitgemäßes sichtbar zu machen mit den Strukturen, die unser Leben bestimmen.

Der Ablauf von Funktionen technischer Gegenstände ist nicht ohne weiteres ersichtlich. In den „Analyse-Arbeiten“ mache ich die heute so prägenden Formen und Funktionen bildwürdig und somit auch für den technischen Laien sichtbar. Die realen Ausmaße z.B. von Teilen des Mikro-Chips aus einem Handy, die als Basis für die Analyse-Montage III verwandt wurden, betragen 200 µm x 200 µm. mit dem Auge gar nicht erfassbar ... auf 160 x 360 cm Leinwand wird dann die Relevanz auch dieser ganz kleinen Dinge deutlich.

Michael Mattern - 1997 A.M. III Izet

Eine zweite Technik wird in meinen „Kompositionen“ verwandt. Für diese überprüfe ich eine Konstruktionsanleitung auf Basisteile, die analog zur heutigen Zeit stehen können – z.B. gewuchtete Walze = steht außerdem für jede Art von Rotationsdruck, sowie Rohre zur Ver- und Entsorgung von Flüssigkeit etc. alle Grundelemente des Konstruktivismus sind in dieser Zeichnung enthalten
Schneideeinrichtung = trennen, portionieren, ein- bzw. zuteilen
Seitenführung = Führung
Halter = Halt (geben / suchen / finden)
Ich fertige eine Schablone davon und arbeite dann mit Airbrush.

Wie auch bei den „Analysen“ arbeite ich mit den „Kompositionen“ in Serien, die über längere Zeiträume sporadisch ergänzt werden - wie etwa die Standard-Serie, die ursprünglich von mir begonnen wurde, um auf Normen in Wirtschaft und Gesellschaft hinzuweisen - 1997 kam durch real gewordene Gen-Manipulation eine wichtige Thematik hinzu.

Michael Mattern -1998 STAND.XIII - Detail Michael Mattern - 1998 STAND.XIII

Bei den vorgenannten Techniken gilt: habe ich mich für einen Ausschnitt entschieden, muss ich mich an das Konstruktionsgitter halten, das dann absolut verbindlich ist. Es werden von mir also weder Linien noch Proportionen verändert.
Diese Verbindlichkeit der technischen Vorgaben habe ich mir selbst auferlegt, um eine Ehrlichkeit in der von mir angestrebten Reflektion der Jetzt-Zeit zu erreichen: bei den „Analysen“ aus den Konstruktionsanleitungen sowie auch bei den „Kompositionen“ mit Basisteilen aus den o.g. Zeichnungen bewege ich mich also in einen vorgegebenen festen Rahmen, der nur innerhalb seiner selbst benutzt und manipuliert wird - analog zur Funktion, zur Reglementierung, zur Standardisierung, zum Arbeitsplatz - selbstverständlich auch ironisiert zu den Wiederholungstätern in der Kunst. Zitat Andy Warhol: „Ich bin eine Maschine, die industrielle Erzeugnisse ausstößt!“

Ich richte meinen Blick auf die Gegenstände, die unsere Zeit bestimmen. Sie bestimmen, wie wir zu reisen haben und wie schnell, mit welchen Antriebstechniken - wie wir kontrollieren und kontrolliert werden - des Weiteren wie wir kommunizieren … und möglichst ständig - wie wir fabrizieren, wie wir entsorgen - kurz und gut wie wir im wesentlichen zu leben haben.

Bei all diesen Konstruktionen und geistigen Auseinandersetzungen darf selbstverständlich die „Intuition“ nicht vergessen werden. Ohne sie ist es unmöglich, überhaupt zu schaffen. Zitat Paul Klee: „Wir konstruieren und konstruieren – aber die Intuition ist eine feine Sache!“

Dem kann ich nur zustimmen. Ist die Intuition schon bei der Auswahl der Bildausschnitte für die „Analyse-Arbeiten“ und der Auswahl der Basis-Teile für die „Kompositionen“ hilfreich - für die dritte meiner Arbeitstechniken ist sie dann sehr bestimmend.
Obwohl ich mich als Künstler freiwillig den vorab genannten Beschränkungen unterwerfe, bin ich der Meinung, immens viel Raum für Kreativität zu haben, denn die bereits erwähnte Formen-Vielfalt bietet mir die Freiheit der Auswahl. So sind es auch keine Pinselstriche, sondern die Formen der Jetzt-Zeit, die den Duktus meiner neuen Malerei bilden.

Meine Techniken erfordern, dass die zu bearbeitenden Flächen zunächst von mir mit einem Skalpell aus der Mask-Folie geschnitten werden. Durch diese Arbeitsmethode entstehen nach und nach tausende von Formen, die sich niemand ausdenken kann. Es sind Außen- und Innen-Umrisse der technoiden Formen auf vorherigen „Analysen“ und „Kompositionen“ – also alle von bestimmter Herkunft mit Assoziationen und Geschichten. Für diese Mask-Teile habe ich eine Lösung zur Zwischen-Lagerung gefunden, um sie zu einem späteren Zeitpunkt als Recycling zu verwenden. Nur durch diese Arbeitsweise ist es mir möglich, „Recycling-Exponate“ zu erarbeiten, die sich auf mein eigenes Werk beziehen.

Viele Künstler versuchten bereits, auf zweidimensionalen Leinwänden ein Raumgefühl entstehen zu lassen – bei Picasso und Braque konnte man es in der MoMa, Berlin, sehr gut erkennen. Zwei weitere Beispiele: Pablo Picasso – girl with a mandolin und Georges Braque – the violin and candlestick

Pablo Picasso – girl with a mandolin Georges Braque – the violin and candlestick

Sehr viel prägender für unsere heutige Zeit sind jedoch die Vielschichtigkeit, die Komplexität. In meinen „Recycling-Arbeiten“ benutze ich also die Mask-Teile aus vorherigen „Analysen“ und „Kompositionen“ ein zweites und letztes Mal. Durch Übereinanderschichtung der Formen und dem Einsatz von Airbrush entstehen mit der Unmenge an Strukturen und Assoziationen, die diesen Formen eigen sind, Bilder, die einzig sind. So ist es mir möglich, die Komplexität unserer Zeit zu reflektieren Formen, Kontraste, Dissonanzen ergeben ein Höchstmaß an Raum-Wirkung, Kraft und Beweglichkeit. Wie bereits erwähnt, setze ich Formen wie Pinselstriche – die so entstehende Bewegung lässt sich mit den Zeitströmen, den ständigen Erneuerungen und Veränderungen unserer Zeit vergleichen.

Die Industrie entwickelte das Recycling-Verfahren, um Müllbergen und Rohstoff-Verschwendung entgegen zu wirken. Es ist also eine relevante Erfindung unserer Zeit, die ich daher in meine Arbeit einbeziehe.
Außerdem ist die Verwendung von Recycling-Formen für mich zugleich aber auch eine dokumentarische Arbeit. Jede Form wurde ja bereits auf einer „Analyse“ oder „Komposition“ verwandt und verweist auf nachvollziehbare Zeiten eines Jahres, in denen ich gearbeitet habe ... und konkret auf vorhandene Bilder.

Michael Mattern - 2005 Entwicklg.Konstruktivismus

Sicher kann man erkennen, dass es mir mit meinem Neo-Konstruktivismus ohne weiteres möglich ist, die Realitäten unserer Zeit zu reflektieren, ohne jeweils dem momentanen Mainstream zu folgen.
Ich bin neugierig - so gelingt es mir, andere Wege zu beschreiten und dem Konstruktivismus eine neue Richtung zu geben, um sichtbar zu machen, was nicht (für jeden) sichtbar ist.

August 2009 Michael Mattern